Maria Rosalie Auguste Nitribitt
Sie wird am 1. Februar 1933 in Düsseldorf geboren, wächst in verschiedenen Heimen und bei einer Pflegefamilie auf. Als Elfjährige wird sie von einem 18jährigen aus der Nachbarschaft vergewaltigt. Mit 18 verliebt sie sich in einen gleichaltrigen Jungen, doch dieser verlässt sie. Enttäuscht flieht Rosemarie immer wieder nach Frankfurt am Main, wo sie mehrfach wegen Landstreicherei verhaftet wird.
Kurz nach Kriegsende prostituiert sie sich erstmals, ihre Kunden sind Besatzungssoldaten. Mit 14 treibt sie ab, kommt in Heime, flieht stets. 1951 wird sie wegen Landstreicherei zu drei Wochen Haft verurteilt, schafft im Frankfurter Bahnhofsviertel an, das darauffolgende Jahr verbringt sie größtenteils in einer Arbeitsanstalt.
1953 dann scheint Rosemarie für sich eine Entscheidung getroffen zu haben. Sie will nicht mehr eine gewöhnliche Hure sein, sondern hoch hinaus. Also nimmt sie Benimmunterricht, lernt ein wenig Englisch und Französisch. Vor allem beginnt sie, in ihr Aussehen zu investieren und sich immer mondäner zu inszenieren. Sie trägt Pelz, auffälligen Schmuck und auf dem Arm ihren Pudel Joe.
Mit 21 Jahren beginnt Rosemarie Nitribitts Leben als Prostituierte in Frankfurt. In kurzer Zeit akquiriert sie einen großen Kundenkreis. Man trifft sie in Casinos und Hotel-Bars, aber auch in heruntergekommenen Etablissements. Auf einen gebrauchten Ford Taunus als erstem Auto folgt ein Opel Kapitän, den sie von einem Freier als Geschenk erhält. Bald kann sie sich ein schickes Apartment in der Stiftstraße 36 leisten und ein damals mondänes Auto: einen schwarzen Mercedes 190 SL mit roten Ledersitzen.
Als Nebensatz: Ihre Kunden waren mit dem Sportwagen nicht zufrieden. Den zumeist gesetzteren Herren bereitete das Ein- und Aussteigen Mühe. Im Herbst 1957 nahm sie daraufhin Kontakt mit der zuständigen Niederlassung Frankfurt auf. Dort wurde für sie ein schwarzes 300 S Coupe mit dunkelgrünem Leder reserviert. Kaufpreis des Neuwagens 34.500 DM. Zur Übernahme kam es dagegen nicht mehr.
Rosemarie Nitribitt ist ein Produkt des Wirtschaftswunders. Männer zahlen gerne für ihre exklusiven Liebesdienste – auch zahlreiche Herren der Hautevolee. Einer ihrer Freier ist Harald von Bohlen und Halbach, Bruder des damaligen Krupp- Konzernchefs.
Doch Deutschlands berühmteste Prostituierte lebt nur kurz: Am 1. November 1957 wird die erst 24jährige tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Polizei und Staatsanwaltschaft gehen bis heute von einem Mord aus. Es folgen langwierige und fehlerhafte Ermittlungen.
Hauptverdächtiger ist zunächst Nitribitts Bekannter Heinz Pohlmann, ihm kann aber kein klares Tatmotiv nachgewiesen werden. 1960 wird er freigesprochen. Bis heute ist der Mord nicht aufgeklärt, Teile der Prozessakten sind verschwunden.
Der Film
Es ist die zutiefst tragische Geschichte einer Prostituierten im Deutschland der 1950er Jahre: Sie ist eine hübsche junge Frau, ein wenig auch Lebedame und sucht nur ein bisschen Wohlstand. Also verdient sie ihr Geld mit Liebesdiensten. Ihre Kunden sind die Banker der Hochfinanz, Männer, die es wieder zu etwas gebracht haben, einflussreiche Männer.
Rosemarie kommt als „unmoralische Unternehmerin“ schnell zu einer Menge Geld. Sie ist begehrt bei bedeutenden Persönlichkeiten, bei Männern, die lüsterne Entspannung außerhalb einer langweilig gewordenen Ehe suchen. Über das Bett erfährt Rosemarie so manches Geheimnis – und damit wird sie für die Mächtigen gefährlich. Rosemarie wird in ihrem Luxusapartment ermordet, der Täter nie gefasst.
Der Regisseur
Schon knapp ein Jahr nach der Ermordung von Rosemarie Nitribitt dreht Regisseur Rolf Thiele seinen Film „Das Mädchen Rosemarie“. Das Werk changiert zwischen der bittersüßen Geschichte einer Lebedame, einem sich anbahnenden Kriminalfall und einer Satire auf das Wirtschaftswunderdeutschland.
Rolf Thiele wählt für seinen Schwarzweißfilm eine stilisierte Form. Übertriebene Geräusche, Schauspieler, die theatralisch agieren, dazu Moritatengesang, der die Handlung immer wieder auf höchst ironische Weise unterbricht. Als „Rosemarie“ glänzt die blutjunge Nadja Tiller, kongenial besetzt sind Mario Adorf, Gerd Fröbe, Karin Baal, Hanne Wider.
Die Hintergründe
Der Film basiert auf den letzten Lebensjahren der Prostituierten Rosemarie Nitribitt. Der „Fall Nitribitt“ wird in der deutschen Nachkriegsgesellschaft zum Skandal, der Film zum Politikum.
Die Idee zur Verfilmung des Nitribitt-Stoffes stammt von dem Publizisten Erich Kuby. Dieser schlägt Produzent Ludwig Waldleitner vor, einen gesellschaftskritischen Film zu produzieren, der die soziale Situation schildert, deren Produkt die Nitribitt ist. Ihre Biografie ist dabei nebensächlich. Hauptdarstellerin soll Nadja Tiller werden, das Drehbuch will er selbst schreiben. Waldleitner ist begeistert. Tiller wird von der Rolle abgeraten, sie sagt denoch zu.
Am 31. März 1958 beendet Kuby gemeinsam mit Regisseur Thiele die Arbeit an dem Drehbuch. Die Dreharbeiten gestalten sich als äußerst problematisch. Bereits vor Fertigstellung des Drehbuches kursieren in der Öffentlichkeit Gerüchte über die Verfilmung. Es kommt zu Protesten aus der Presse, von Kinobesitzern und dem Wirtschaftsverband der Filmtheater Nordrhein-Westfalens.
Aus Angst um ihren guten Ruf wollen Firmen wie Mercedes-Benz, Aral und die Opel-Werke mit der Produktion nichts zu tun haben. Der Dreh im Hotel Frankfurter Hof wird ebenfalls untersagt. Das Hotel setzt sogar durch, dass bei Szenen im Foyer die Einblendung des Untertitels Palast Hotel erfolgt. Die Hotelräume werden in den Berliner CCC-Studios des Produzenten Artur Brauner detailgenau nachgebaut.
Als der Film abgedreht ist, kann er nicht ohne weiteres in den Kinos gezeigt werden. Waldleitner erhält 16 einstweilige Verfügungen und muss zwei Auflagen der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) einhalten: Am 18. August 1958 beschließt das FSK-Gremium, dass eine Szene mit marschierenden Bundeswehrsoldaten sowie der Vorspanntext verändert werden müssen. Eine Zeichnung von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, die neben Nitribitts Bett hängt, lässt Waldleitner noch vor der FSK-Prüfung retuschieren.
Zu den lautesten Kritikern gehört das Auswärtige Amt: Der Film erwecke falsche Vorstellungen von den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen in der Bundesrepublik. Als der Film zum offiziellen deutschen Wettbewerbsbeitrag für die 19. Internationalen Filmfestspiele in Venedig gewählt wird, versucht das Filmreferat die Vorführung zu verhindern. Da die Festspielleitung ihre Filmauswahl jedoch selbst bestimmen kann, ist die Bundesregierung machtlos. Am 25. August 1958 wird das Werk in Venedig unzensiert uraufgeführt. Während der Vorstellung gibt es mehrmals Szenenapplaus, am Ende frenetischen Beifall.
Die deutsche Premiere am 28. August 1958 im Frankfurter Europapalast an der Hauptwache verläuft anfangs chaotisch. Das Interesse an dem Film ist so groß, dass sich bei der Nachmittagsvorstellung am Eingang massenhaft Kinobesucher drängen und Sicherheitspersonal einschreiten muss. Doch dann wird die Produktion auch hier gefeiert.
Mit dem offiziellen Kinostart in Deutschland, Europa und in den USA beginnt in der internationalen, aber vor allem in der deutschen Presse eine Diskussion darüber, ob der Film moralisch vertretbare Kunst oder kommerzielle Ausbeutung einer „Huren-Biografie“ sei. Die Meinungen darüber sind zwar gespalten, insgesamt aber haben Presserummel und Proteste auch eine positive Seite: Sie verschaffen der Produktion einen enormen Werbeeffekt. In Deutschland wird Thieles Filmwerk mit mehr als acht Millionen Zuschauern zum umsatzstärksten Kinofilm der Saison 1958/59 und dafür mit dem Kassenschimmel der Zeitschrift Filmblätter – einem Vorläufer der Goldene Leinwand – ausgezeichnet.
Auch in New York läuft der Film erfolgreich. Ein Korrespondent berichtet 1960, The Girl Rosemarie erhalte den stärksten Publikumszulauf, den ein deutscher Nachkriegsfilm überhaupt in New York erreichen könnte.
Das Werk beschert seinen Machern wichtige Preise: 1958 gewinnt Luggi Waldleitner während der Biennale di Venezia (Internationale Filmfestspiele von Venedig) den Coppa Pasinetti der italienischen Filmkritiker. Im selben Jahr erhält er den Preis der Deutschen Filmkritik. 1959 nimmt der Produzent in Hollywood den Golden Globe für DAS MÄDCHEN ROSEMARIE als beste Auslandsproduktion entgegen, und Rolf Thiele wird beim Argentinischen Festival Mar del Plata mit dem Regie-Preis geehrt.
Dr. Ursula Kähler, Deutsches Filminstitut, zusammenfassend 2008: „Inhaltlich wie formal ist es ein herausragender Film. Er ist schick, modern, komisch und zudem ausdrucksstark in seiner Zeitkritik. Und das in einem Jahrzehnt, in dem Heimatfilme und Komödien die deutschen Kinos dominieren. Dabei jongliert die Produktion mit den großen historischen Themen der fünfziger Jahre: der Politik Adenauers, insbesondere Wirtschaftswunder sowie Remilitarisierung und der Identitätssuche der deutschen Gesellschaft. DAS MÄDCHEN ROSEMARIE kritisiert die strenge Neu-Orientierung auf alte kleinbürgerlich-konservative Werte und konterkariert diese mit der Darstellung eines dem Konsum verfallenen Bürgertums – personifiziert durch die Herren des Isoliermattenkartells -, das moralische Wertvorstellungen vernachlässigt. Rosemarie profitiert hiervon und steigt blitzschnell auf zur reichen Kokotte.“
Darüber hinaus wird politisches Kabarett mit filmischer Dramaturgie verbunden. Die als Bänkelsänger auftretenden Mitbewohner Rosemaries, Jo Herbst und Mario Adorf, unterbrechen und kommentieren mit ihren zeitkritischen Songs in Brecht’scher Manier die Filmhandlung.
Produzent Luggi Waldleitner gelang es, das richtige kreative Team – mit Kuby und Thiele an der Spitze – zusammenzustellen. Mit Nadja Tiller als Hauptdarstellerin fiel die Wahl auf ein junges, schönes und intelligentes Talent, wie sie besser kaum hätte ausfallen können. Die Presse ist begeistert von ihr. So schreibt Ernst Veit 1958 für Das Film-Echo: „Ausgezeichnet Nadja Tiller als Rosemarie mit dem Mut zur Verworfenheit; sie erweckt keinen Augenblick unsere Anteilnahme. Die bisher eindrucksvollste Leistung dieser begabten Schauspielerin.“
Quellen/Literatur Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, „Rosemarie Nitribitt“ von Christian Steiger 2007
Fotos Sammlung Polizeipräsidium Frankfurt (SPF), Deutsches Kriminalmuseum (DKM),
Archiv Ritter